Im Oxford Advanced Learner’s Dictionary wird „Extraktion“ als „der Akt oder das Verfahren der Entfernung oder Gewinnung von etwas aus etwas anderem“ definiert. Der Begriff wird üblicherweise auf Material und Methoden angewandt, selten nur ist von einer Extraktion von Arbeitskraft die Rede. Erst seit Kurzem sieht sich der Architektur- und Urbanismusdiskurs dazu gezwungen, die Rolle der gebauten Umwelt im Hinblick auf die Veränderungen und Manipulationen in Mikro- und Makro-Ökologien in den Blick zu nehmen – und sich insofern mit den Folgen für Gesellschaft und Umwelt zu beschäftigen. Zugleich konzentriert sich die Diskussion über nachhaltige Infrastrukturen viel zu oft auf das urbane Umfeld und übergeht ländliche Kontexte und Communitys, die nicht selten die Hauptlast dieser Extraktionen tragen. Ein solches Fehlen eines umfassenden und ganzheitlichen Ansatzes ist unserem Verständnis von Geschichte, Gegenwart und Zukunft alles andere als zuträglich. Entsprechend konzentriert sich das dieDAS-Fellowhip 2024 –nicht zuletzt auf Grundlage der letztjährigen Recherchen und Ergebnisse zum Thema Monumental Affairs – auf das Land und seine Leute.
Das diesjährige Thema Material Evidence: Die Abwesenheit von Land und Arbeit lädt Lieferant*innen vom Land, Arbeitsaktivist*innen, Bäuer*innen, Designer*innen, Theoretiker*innen, Klimaaktivist*innen, Künstler*innen, Architekt*innen, Kritiker*innen und viele mehr nach Saaleck ein, um sich dort mit den vielschichtigen Folgen der Extraktion vor dem Hintergrund der Umweltgerechtigkeit zu befassen. Material Evidence fragt: Was ist die Moral der Extraktion? Wer baut die Monumente, die in unseren Städten stehen? Wer kontrolliert den Zugang zu natürlichen Ressourcen? Welchen Input und Output produzieren materielle Systeme eigentlich und wie steht es um deren Einfluss auf die Verfasstheit von Arbeit und Gesellschaft?
Die dieDAS-Fellows des Jahres 2024 werden zur Beantwortung dieser Fragen Methoden des taktischen Urbanismus heranziehen wie solche der traditionellen Recherche und Materialbefragung. Gelegen in Saaleck im ehemaligen Domizil des Architekten und Rassenideologen Paul Schulze-Naumburg (während des Nationalsozialismus zudem ein Treffpunkt für Vertreter*innen des totalitären Regimes), bietet dieDAS seinen Fellows ein belastetes, aber eben auch fruchtbares Umfeld für die Auseinandersetzung mit dem Thema. Die ausgewählte Gruppe soll während ihres Aufenthalts Architektur, Design und bildende Kunst als Vehikel und Mittel zur Entwicklung von Narrativen begreifen. Spekulatives Gestalten geht Hand in Hand mit Workshops zu Fragen rund um Material, Entwicklung, Extraktion, Klima, Rassismus und Gender. Material Evidence möchte dabei die komplexen Folgeerscheinungen dieses historischen Orts, sein gebautes Erbe und den Einfluss des Nationalismus auf konkrete architektonische Materialität unter die Lupe nehmen. Das dieDAS-Fellowship 2024 adressiert diese Themen aber nicht nur unmittelbar in Bezug auf seinen eigenen spezifischen Mikrokosmos, sondern auch im Bewusstsein um die Dringlichkeit, die aus dem aktuellen globalen Klima erwächst, sowie die Chancen, die sich daraus ergeben – und schafft dabei ein Umfeld für rigoroses, freies und imaginatives Denken.
Germane Barnes
Künstlerischer Direktor dieDAS